Weltwoche - Wieso man auch bei Roger Köppel kritisch sein soll
Das Versagen eines kritischen Denkers
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Ist die Hamas mit den Nazis vergleichbar? Ein offener Brief an Roger Köppel. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
«Sobald sich ein Volk seiner Fesseln entledigt, werden die Terroristen überflüssig.» / © Pixabay – Hosni Salah, Fotograf in Gaza
Es gibt ein Blatt im Blätterwald des Mainstreams, das sich von der Monokultur desselben wohltuend abhebt. Im Wochenrhythmus erscheinend, pflegt es eine traditionell «andere Sicht», die in der jüngsten Gegenwart zu einer existenziellen Notwendigkeit wurde. Ob Corona, Ukraine, Klima, Migration oder Gender – stets verweigerte sich die «Weltwoche» dem erschreckenden Gleichschritt der Medien. Und niemand würde bestreiten, lieber Roger Köppel, dass der mutige Alleingang des 90-jährigen Blattes zuallererst dein Verdienst ist. Einem Winkelried gleich stellst du dich der Mainstreamwalze entgegen und hinterfragst jedes politische Tabu, auch wenn du dir damit Feinde schaffst. Du verkörperst für mich den Inbegriff eines kritischen Denkers, und viele Menschen – ich eingeschlossen – empfinden für dich nicht nur Sympathie, sondern Hochachtung.
Doch in den letzten Wochen hast du uns deutlicher als jemals zuvor offenbart, dass es ein Thema gibt, bei dem dein kritisches Denken versagt. Wenn es um Israel geht, tust du dasselbe, was du deinen Berufskollegen im Mainstream Tag für Tag vorhältst: Du machst dich zum Sprachrohr, zum Propagandagehilfen des israelischen Staates. Derselbe scharfsinnig denkende Publizist Roger Köppel, der sich im Ukraine-Konflikt stets gegen die Dämonisierung des russischen Präsidenten aussprach und es völlig unsinnig fand, in Putin den Teufel persönlich zu sehen – derselbe Roger Köppel verwendet für die palästinensische Hamas das Vokabular, aus dem sich auch der israelische Premierminister bedient. Du bezeichnest die Hamas abwechslungsweise als «Mördersekte», als «Killer», als «Psychopathen» und fragst dich allen Ernstes, ob bei der Hamas «der Begriff des Bösen angebracht sei». Als könnte man eine politische Kraft mit psychologischen Klischees erklären.
Doch damit nicht genug. Trotz deiner historischen Klarsicht gehst du so weit, die palästinensischen Islamisten im gleichen Atemzug mit den Nazis zu nennen – obwohl du doch sonst davor warnst, das Wort «Nazi» missbräuchlich zu verwenden. Und du schreckst nicht einmal davor zurück, die Gründungscharta der Hamas aus dem Jahre 1988 auszugraben und sie mit Hitlers «Mein Kampf» zu vergleichen, weil in der Charta geschrieben stand, dass auch die Hamas die Juden vernichten wolle. Die Wortwahl der Islamisten, jeden einzelnen Juden, wo immer er sich verstecke, zu finden und umzubringen, ist in deinen Augen so grässlich, dass du dich zum Fazit versteigst, «Mein Kampf» sei sogar noch «zurückhaltender formuliert» als das Hamas-Programm.
Du vergisst dabei jede kritische Einordnung und Distanz und bedienst dich einer genauso enthemmten Sprache wie die Islamisten selbst. Indem du von einem «vulkanisch sich austobenden diabolischen Hass» schreibst, von einer «bestialischen Vernichtungsorgie», von einem «Fanatismus des Niedermetzelns», machst du die Hamas zu menschlichen Monstern. Und von den Monstern ist es dann nicht mehr weit bis zur Aussage des israelischen Verteidigungsministers, der die Hamas als «menschliche Tiere» bezeichnet.
Aber stimmt es denn nicht, was du so drastisch aussprichst? Haben die Hamas bei ihrer Attacke auf Israel etwa nicht im Blutrausch gemordet? War ihr Töten etwa nicht grausam, gnadenlos und gefühllos?
Natürlich war es das. Aber – und jetzt kommt das Aber, das ich bei dir sonst immer so schätze und hier so schmerzlich vermisse: Die Attacke der Hamas hat ihre Vorgeschichte. Eines deiner Lieblingsworte! Beim Ukraine-Konflikt hast du immer dafür plädiert, dass wir eine Kriegspartei nicht vorschnell verurteilen dürfen. Statt zu verurteilen, sollten wir zu verstehen versuchen. Und verstehen könnten wir nur, wenn wir die Vorgeschichte eines Konfliktes kennen.
Diese Grundhaltung gilt für dich überall. Nur nicht beim Thema Palästina und Israel. Da gibt es für den sonst stets um Meinungsvielfalt bemühten Autor nur eine einzige Meinung. In einer für mich unbegreiflichen Verfälschung der Wirklichkeit stellst du Israel seit jeher als Opfer dar, als den schuldlosen David, der umzingelt von arabischen Goliaths nur eines will: in Frieden mit seinen Nachbarn leben. Dass Israel, ganz im Gegenteil, der von den USA protegierte und hochgezüchtete Goliath ist und wie ein mächtiger Stachel im arabischen Fleisch sitzt; dass es sich rücksichtslos immer mehr ausgedehnt hat und ein ganzes Volk in seiner Gewalt hält, liest man in der Weltwoche nie – oder allerhöchstens am Rande in einem Gastkommentar. Du selber sprichst nur von «Fehlern» der israelischen Politik. Alles andere, die ganze Apartheid findest du offenbar legitim.
Wenn es um Palästina und Israel geht, gibt es in deinem Blatt seit vielen Jahren nur einen «Experten»: den aus Israel berichtenden, mittlerweile 73-jährigen Nahostkorrespondenten Pierre Heumann, der in fast peinlicher Einseitigkeit auch als Fachmann für Palästina auftritt. Eine wirklich «andere Sicht» aus Nahost sucht man in der Zeitung vergeblich.
Dabei gäbe es sogar in Israel selbst viele «andere» Stimmen, die für die Weltwoche regelmässig berichten könnten. Überall in der Welt leben Juden, die Israels Politik kritisieren. Ich greife eine aktuelle Stellungnahme heraus, die mich besonders berührt hat: Gabor Maté ist ein jüdischstämmiger Arzt und Kanadier mit ungarischer Herkunft, ein Kind von Opfern des Holocausts und als junger Erwachsener Zionist mit glühender Liebe zu Israel. In einer bewegenden Videobotschaft schilderte er vor einigen Tagen seine Besuche im Westjordanland und im Gazastreifen und gelangte mit Blick auf die jüngsten Ereignisse zu einer wagemutigen Schlussfolgerung: «Take the worst thing you can say about Hamas, multiply it by a thousand times, and it still will not meet the Israeli repression and killing and dispossession of Palestinians.»
«Denken Sie ans Schlimmste, was Sie über die Hamas sagen können, multiplizieren Sie es mal tausend, und es wird immer noch nicht der israelischen Unterdrückung, dem Töten und der Enteignung der Palästinenser gerecht.»
Lieber Roger, warum finde ich dein blindes Engagement für Israels «Recht auf Verteidigung» so verhängnisvoll? Weil du nicht irgendein Journalist bist, sondern der Herausgeber einer Zeitung, deren Stimme gerade jetzt von unschätzbarer Bedeutung ist. Die Menschen, die die «Weltwoche» lesen oder Tag für Tag deine Sendung hören, vertrauen dir. Sie vertrauen auf dein differenziertes Urteil. Auch beim Thema Israel. Doch viele von ihnen sind irritiert. Sie begreifen nicht, warum du die Rolle der Amerikaner in Osteuropa so kritisch siehst, während du sie in Nahost verteidigst. Obwohl es stets um dasselbe geht – um die westliche Vorherrschaft. Um die israelische Dominanz in der arabischen Welt. Dafür sind alle Mittel erlaubt. Dafür darf ein ganzes Volk unterdrückt werden.
Wenn aber dieses Volk nach 70 Jahren Diskriminierung und Not so verzweifelt ist, dass es keinen anderen Ausweg mehr als den Terror sieht, dann hast du dafür kein Verständnis. Dann beeilst du dich zu behaupten: Die Palästinenser und die Hamas sind nicht dasselbe. Natürlich sind sie dasselbe! Ohne die Menschen in Gaza gäbe es die Hamas gar nicht. Und die Hamas ist ihre letzte und einzige Waffe. Denn das westliche «Mitgefühl», das auch du propagierst, hat den Menschen in Gaza ausser Hilfsgütern nichts gebracht.
Lieber Roger, du musst es zugeben: Ohne die Terrorattacke der Hamas hättest auch du die Palästinenser vergessen. Terroristen sind immer brutal. Aber so schrecklich es ist: Sie müssen brutal sein, weil sonst niemand zuhört. Sich über sie zu entsetzen, ist deshalb billig. Mag sein, dass die Hamas immer noch alle Juden am liebsten vernichten würde. In Israel gibt es dafür Parteien, die am liebsten alle Araber umbringen würden. Um ihren Traum von Grossisrael zu verwirklichen. Und das israelische Militär hat schon jetzt dreimal so viele Menschen in Gaza getötet wie die Hamas in Israel.
Die palästinensischen Islamisten im gleichen Atemzug mit Hitler zu nennen, ist lächerlich. Und zeugt von einer historischen Ignoranz, die mich gerade bei dir erstaunt. Die Hamas sind keine Wehrmacht und keine SS. Sie sind ein paar tausend Männer aus Gaza, mehr nicht, die wie alle Menschen in Palästina einfach nur frei sein wollen. Sie wurden nicht als Terroristen geboren. Terrorismus ist nie die Ursache, sondern der Notausgang. Und sobald sich ein Volk seiner Fesseln entledigt, werden die Terroristen überflüssig. Dann braucht es sie nicht mehr. So wird es auch der Hamas ergehen - eines Tages, wenn die Palästinenser frei sind. Dieser Tag ist noch fern. Doch du kannst dazu beitragen, lieber Roger, dass er näherrückt.
25. OKTOBER 2023
VON: NICOLAS LINDT
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex Libris, Orell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch
Weitere Bücher von Nicolas Lindt
Nicolas Lindt publiziert den Podcast «5 Minuten» täglich von Montag bis Freitag – Gedanken, Beobachtungen, Geschichten. Zu finden auf Facebook, Spotify, iTunes oder direkt auf der Webseite von Nicolas Lindt: www.nicolaslindt.ch
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