Schweiz - Atommacht Schweiz: Der Fall Tinner - eine ungalubliche Geschichte
Der Fall Tinner – eine unglaubliche Geschichte, erzählt in 6 Akten
Prolog
Die Causa Tinner beschäftigte vor zehn Jahren die Schweizer Medienlandschaft.
Es ist eine Geschichte, bei der sich die Weltmacht USA gegen die Schweiz auflehnte, der Bundesrat trotz Souveränitätsverletzung dem Druck der CIA nachgab, sich zwei helvetische Staatsgewalten, die Exekutive und die Judikative, in Form der Kantonspolizei Bern und der Bundespolizei Fedpol bewaffnet gegenüberstanden und sich um den Schlüssel zu einem Tresor stritten, in dem sich Dokumente befanden, die die Sprengkraft besassen, den Weltfrieden in Gefahr zu bringen.
Astreines Thriller-Serien-Material für Netflix. Doch diese Geschichte ist tatsächlich so passiert. Die NZZ rollte den Fall nun nach zehn Jahren neu auf und sprach mit Direktbeteiligten.
1. Akt: Friedrich Tinner und die Atombombe für Pakistan
Gutbürgerliche, aufrichtige Schweizer: So beschrieben Bekannte Friedrich Tinner und seine Familie. Die Tinners wohnten in den 70er-Jahren im St. Galler Rheintal. Der Vater, ein Ingenieur, war zu jener Zeit Export-Chef eines aufstrebenden Industrieunternehmens mit Sitz in der St. Galler Ortschaft Haag, der Vakuum Apparate Technik AG (VAT).
Friedrich Tinner kam Mitte der 70er-Jahre in Kontakt mit dem pakistanischen Atomwissenschaftler Abdul Qadeer Khan. Die beiden freundeten sich an und schon bald lieferte Tinner über die Firma VAT massgeschneiderte Bestandteile für den Bau von Uran-Zentrifugen nach Pakistan.
Pakistan stritt lange Zeit ab, an einer eigenen Atombombe zu basteln. Die Uran-Zentrifugen konnten sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke eingesetzt werden.
VAT goutierte die Geschäfte mit Khan trotzdem nicht und so musste Friedrich Tinner die Firma schon bald verlassen. 1982 gründete er sein eigenes Unternehmen und arbeitete fortan noch intensiver mit Khan zusammen.
Es entstand eine veritable Männerfreundschaft. Khan reiste des Öfteren ins Rheintal zu den Tinners, im Gegenzug wurde das Ehepaar Tinner zur Hochzeit von Khans Tochter eingeladen. Die beiden Söhne von Friedrich Tinner, Marco und Urs, wurden vom Vater auch schon bald in das Familiengeschäft eingeführt.
Die schweizerisch-pakistanische Zusammenarbeit fruchtete: 1998 testete Pakistan als erstes muslimisches Land eine Atombombe und kann sich seitdem als Atommacht bezeichnen.
2. Akt: Christoph Blocher zu Besuch im Weissen Haus
Wir machen einen Sprung in die Zukunft, genauer gesagt ins Jahr 2006. 30 Jahre nachdem Friedrich Tinner und A. Q. Khan ihre Geschäftsbeziehung aufnahmen, sitzt Christoph Blocher im Gästehaus des US-Präsidenten in Washington und isst zu Abend. Der damalige Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) wird plötzlich vom amerikanischen Justizminister Alberto Gonzales unterbrochen. Gonzales möchte Blocher unter vier Augen sprechen. Selbst Blochers Dolmetscher soll angeblich aus dem Raum gebeten worden sein.
Gonzales berichtet dem Bundesrat von heiklen Unterlagen, von Plänen zum Bau von Atomwaffen und Anleitungen zur Anreicherung von Uran. Die Dokumente sollen sich im Besitz der schweizerischen Bundesanwaltschaft befinden. Diese hat sie ihrerseits bei der Familie Tinner beschlagnahmt.
Gegen die Tinners wird in der Schweiz nämlich seit Anfang 2004 ermittelt. Dies Aufgrund von Informationen aus dem Ausland, wonach die Familie Teil eines weltumspannenden Netzwerks von Atomschmugglern sei. Gonzales macht Blocher klar, dass diese Unterlagen von Bedeutung für den Weltfrieden seien.
Weiter erklärt der US-Justizminister Blocher, dass die Familie Tinner seit geraumer Zeit als Informanten für die CIA und den britischen Auslandgeheimdienst MI6 arbeiten.
Doch wieso beichtet Gonzales das dem schlecht Englisch sprechenden Blocher?
Aus zwei Gründen: Einerseits möchten die USA, dass die Schweiz das laufende Strafverfahren gegen die Tinners einstellt – aus Angst, dass die Familie bei einem Gerichtsverfahren brisante Informationen ausplaudern könnte. Andererseits möchte er von Blocher, dass die Unterlagen über die Tinners den Amerikanern übergeben werden.
Was Gonzales da noch nicht zu wissen scheint: Der Justizminister der Schweiz kann, anders als in den USA, solche Sachen nicht alleine entscheiden.
3. Akt: Die CIA bricht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion bei den Tinners ein
Was Blocher da definitiv noch nicht weiss: Die CIA hat die rechtliche Souveränität der Schweiz massiv verletzt.
Wir springen drei Jahre zurück. Es ist der 21. Juni 2003. Ein CIA-Team hat sich mit Marco Tinner zu einem Gespräch in Vaduz verabredet. Währenddessen brach ein zweites Team der CIA, bestehend aus fünf Männern und einer Frau, in Tinners Haus in Jenins im Bündnerland ein.
Ein Agent hielt draussen Wache, während die restlichen fünf Spione den gesamten Inhalt der verschiedenen Computer im Haus kopierten. Darunter befanden sich unter anderem die Pläne zum Bau von Atomwaffen und die Korrespondenz der Tinner-Familie mit A. Q. Khan.
Die CIA nutzte diese Beweise, um die Tinners zur Kooperation zu zwingen.
Was Blocher nicht wusste, war der Bundesanwaltschaft jedoch bekannt: Sie bekam Wind von der Aktion der CIA und wollte den Geheimdienst wegen verbotenen Nachrichtendienstes anklagen.
4. Akt: Blochers Masterplan und der Kniefall des Bundesrats
Nach Blochers USA-Reise steckt der SVP-Bundesrat in der Zwickmühle: Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen die Tinners und möchte ein Strafverfahren gegen die Agenten der CIA eröffnen. Für Letzteres braucht die Bundesanwaltschaft aber die Ermächtigung durch den Bundesrat.
Washington auf der anderen Seite möchte jedoch, dass beide Ermittlungen abgeblasen und die Beweise vernichtet werden.
Blochers Plan: Die Schweiz soll, anstatt die Beweise auszuliefern, die Akten selbstständig, unter Aufsicht der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), zerstören.
Damit würden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Dokumente wären zerstört und das Strafverfahren gegen die Tinners müsste mangels Beweisen eingestellt werden.
Mit diesem Masterplan in der Tasche reist Blocher im Juli 2007, nur Monate vor seiner Abwahl, erneut in die Staaten. Er trifft sich mit Gonzales und anderen ranghohen Tieren der US-Regierung. Darunter auch der damalige FBI-Direktor Robert Mueller, der zuletzt wegen seiner Rolle als Sonderermittler in der Causa Trump – Russland in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist.
Blocher präsentiert den Amerikanern seinen Plan. Zuletzt auch dem Koordinator aller amerikanischen Geheimdienste, Mike McConnell.
Die Amerikaner stimmen Blochers Plan zu, jedoch unter einer Bedingung: Der Bundesrat darf der Bundesanwaltschaft keine Ermächtigung erteilen, gegen die CIA-Agenten, die in Marco Tinners Haus eingebrochen sind, vorzugehen.
Das Problem dabei: Der gesamte Bundesrat muss diesem Plan zustimmen.
Und so weiten die Amerikaner ihre Lobbyarbeit auf weitere Mitglieder des Bundesrats aus. Robert Mueller und George Bush senior kümmern sich um Samuel Schmid, den Vorsteher des Verteidigungsdepartements (VBS). Schmid und Bush senior haben sich anlässlich eines Arbeitsbesuches sogar getroffen.
Aussenministerin Condoleezza Rice machte derweil ihrer Schweizer Amtskollegin Micheline Calmy-Rey Feuer unter dem Hintern. In einem Telefongespräch wirft Rice dem Bundesrat vor, seit Jahrzehnten vom Atomschmuggel der Tinners gewusst zu haben.
Trotzdem sei nie etwas unternommen worden. Wenn die Schweiz nun die CIA-Agenten anklagen würde, erwecke das den Eindruck, die Schweiz würde die Weiterverbreitung von Atomwaffen unterstützen. Was das für die Beziehungen zwischen den USA und der Schweiz bedeuten würde, sei ebenfalls klar.
Eine Woche nach dem Gespräch, am 16. August 2007, spricht sich Calmy-Rey in einer internen Stellungnahme gegen eine Strafverfolgung der CIA-Agenten aus. Vier Tage später tut dies auch Samuel Schmid. Nochmals eine Woche später beschliesst der gesamte Bundesrat, der Bundesanwaltschaft die Ermächtigung für ein Strafverfahren zu verweigern.
5. Akt: Der diskrete Diplomateneingang der Kehrichtverbrennungsanlage Warmbächli
Offiziell hat sich der Bundesrat aufgrund eines Berichts des Aussendepartements zu diesem Entschluss entschieden. Das EDA hat nämlich eine Aktennotiz aus dem Jahre 1979 im Bundesarchiv gefunden.
Aus dieser geht hervor, dass die amerikanische Botschaft beim damaligen Staatssekretär Albert Weitnauer vorstellig wurde und ihre Besorgnis über das schnell fortschreitende Atomprogramm in Pakistan kundgetan hat. Die Botschaft zeigte auf, dass Schweizer Firmen bedeutsame Hilfe leisteten. Auch das Unternehmen VAT wurde genannt.
Der Bundesrat ignorierte es. Den Lieferungen wurde weiterhin stattgegeben.
Nun, fast 30 Jahre später, im Herbst 2007, muss der Bundesrat die Angelegenheit wieder geradebiegen. Der nächste Schritt: Akten vernichten. Dazu muss Notrecht angewendet werden.
Es ist ein Instrument, das die Bundesverfassung nur in Ausnahmefällen vorsieht, wenn die innere oder die äussere Sicherheit der Schweiz gefährdet sind – und der Bundesrat stimmt einstimmig dafür.
Kurze Zeit später wird Blocher abgewählt. Seine Nachfolgerin, Eveline Widmer-Schlumpf, macht nahtlos dort weiter, wo Blocher aufgehört hat. Sie ist für die Umsetzung des Geheimbeschlusses zuständig. Also dafür, dass die Unterlagen der Tinners zerstört werden. Sie tut dies mit grossem Elan. In einer Medienmitteilung schreibt ihr Departement, dass die Dokumente «Weltregionen destabilisieren und letztlich das Leben von Millionen von Menschen gefährden» könnten.
Hier kommt die alte Kehrichtverbrennungsanlage Warmbächli am Stadtrand von Bern ins Spiel. Diese besitzt einen separaten Zugang für Diplomaten. Dort können unliebsame Unterlagen direkt ins Feuer geworfen werden. Praktisch.
Das macht sich der Bundesrat zunutze. Im Februar 2008 werden während dreier Tage 1,9 Tonnen Beweismaterial aus der Welt geschafft. Kaderleute des Fedpol höchstpersönlich waren für die Entsorgung zuständig. Ein Mann der CIA, der nur «Tom» genannt wurde, überwachte das Ganze.
6. Akt: Showdown am Sitz von Fedpol
Es kommt noch dicker: Ende 2008 stellt sich heraus, dass im Keller der Bundesanwaltschaft Kopien der wichtigsten Dokumente entdeckt wurden. Die ganze Arbeit war also fast umsonst.
Widmer-Schlumpf setzt alles daran, auch diese Akten zu vernichten. Doch der Untersuchungsrichter Andreas Müller, der für den Fall der Tinners zuständig war, widersetzt sich der Bundesrätin. Müller will die Dokumente als Beweismittel verwenden.
So kommt es am 9. Juli 2009 zum Showdown. Untersuchungsrichter Müller begibt sich gemeinsam mit einer Eskorte von bewaffneten Polizisten der Kantonspolizei Bern und einem Hausdurchsuchungsbefehl zum Sitz der Fedpol an der Brückenstrasse in Bern. Sie wollen die Dokumente abholen.
Ihnen in den Weg stellt sich eine ebenfalls bewaffnete Einheit der Bundespolizei. Diese soll im Auftrag des Bundesrats die Akten vor der Judikative schützen.
Es wird um einen Schlüssel gestritten, der in einem Tresor eingeschlossen ist. Es ist der Schlüssel für jenen Lagerraum, wo inzwischen die wiedergefundenen Unterlagen aufbewahrt werden.
Der ranghöchste Beamte des Fedpol will nicht klein beigeben und setzt sich kurzerhand auf den Tresor mit dem Schlüssel. Nach stundenlangem Hin und Her einigt man sich auf einen Kompromiss: Der Tresor wird bis auf weiteres in einer Bankfiliale untergebracht. Danach soll weiterverhandelt werden.
Epilog
Spoiler: Müller bekam die Dokumente nicht. Er durfte sie jedoch fast alle einsehen. Ausser dem Ordner «Nr. 10». In diesem sollen Informationen über die Kooperation der Tinners mit der CIA zu finden sein.
Friedrich Tinner sowie die zwei Söhne Urs und Marco wurden wegen Förderung der Herstellung von Kernwaffen zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und etwas mehr als vier Jahren verurteilt.
Die Tinner-Akten wurden im März 2013 in der neuen Energiezentrale Forsthaus verbrannt. Forsthaus ersetzte die abgerissene Kehrichtverbrennungsanlage Warmbächli.
Immer mit von der Partie war die CIA, die der Verbrennung beiwohnte. Somit ist der Fall nun abgeschlossen, ausser es tauchen noch weitere Kopien der Unterlagen auf.
insgesamt 0 Kommentare: