Russland - Die Russen trauern mehr und mehr um den Verlust von Europa
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Russland trauert mehr und mehr um Europa
Die ideologische Kluft zwischen Europa und Russland hat sich seit Anfang 2022 vertieft. Sie ist kaum noch wiedergutzumachen. Von Guy Mettan
Politologe und Journalist Guy Mettan reiste kürzlich nach Russland. Auf Bon pour la tête hat er über die Stimmung im Land und den Krieg in der Ukraine berichtet. Transition News durfte den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors übernehmen und hat ihn ins Deutsche übersetzt.
Das erste, was den ausländischen Besuchern in Russland auffällt, ist die beinahe Normalität des täglichen Lebens. Ausländer, von denen es in Russland seit dem 24. Februar 2022 immer weniger gibt, werden umworben. Die Russen wollen wissen, was man im Westen über sie denkt.
Wer westliche Medien liest und hört, erhält einen falschen Eindruck vom Lebensalltag in Russland. Der westliche Medienkonsument glaubt vermutlich, dass die Russen in einem Belagerungszustand leben; dass sie alles unternehmen, um die gnadenlosen Wirtschaftssanktionen zu überleben (…) und die unzähligen Toten begraben, die ihnen die siegreichen Ukrainer zugefügt haben. Doch davon ist nichts zu spüren.
In den Grossstädten sind die Strassen voller Lichter und Weihnachtsdekorationen. Die Eisbahnen und Märkte im Freien werden trotz Kälte und Schnee überrennt. (…) Diese Atmosphäre steht im Gegensatz zu den Blitzlichtgewittern in unseren schmucklosen Städten mit ihren tristen Schaufenstern. (…)
Der normale Alltag wird durch die Wirtschaftsstatistiken bestätigt. Sie zeigen: Der Rückgang des russischen Bruttosozialprodukts beschränkt sich im Jahr 2022 auf 2,5-3 Prozent. Damit verzeichnet Russland einen Rückgang, der weniger stark ist als 2020, dem ersten Jahr der Covid-Krise.
Geschlossene Geschäfte fallen einem nur hier und da auf – betroffen sind vor allem Luxusmarken. Plakate, die zur Unterstützung der russischen Soldaten aufrufen, dienen als einzige Erinnerung daran, dass an der Grenze des Landes ein Krieg stattfindet.
Ein Konflikt, der andauert
Ist diese Normalität womöglich nicht echt? Verdeckt sich hinter ihr eine tiefe Verwirrung der Bevölkerung, eine dumpfe Feindseligkeit gegenüber dem «Regime», eine Angst, sich zu äussern, wie es bei uns so oft suggeriert wird?
Ich hatte nicht das Gefühl, dass dies der Fall war. Im Gegenteil. Mein Eindruck: Die Russen sind sich bewusst, dass der Konflikt in der Ukraine noch länger dauern wird. Sie wissen, dass sie mit ihm noch längere Zeit leben müssen.
Die Russen waren anfangs ebenso überrascht und verblüfft von der «militärischen Sonderoperation» in der Ukraine (…) Auch in Russland ist die Rede von zig Millionen Menschen, die durch diesen Konflikt isoliert und gespaltet wurden, weil sie familiäre Bindungen in die Ukraine haben.
Nachdem jedoch der Moment der Verblüffung vorüber war, dachten viele, dass die Kämpfe zwar andauern, sich aber nicht ewig hinziehen würden. Die ersten Rückschläge Ende August 2022, und vor allem die Teilmobilisierung im September, dämpften diese Hoffnungen.
Mehrere hunderttausend Reservisten flohen ins Ausland ̶ ihre Zahl wird auf max. 400’000 Personen geschätzt. Inzwischen sind es deutlich weniger. Sind sie auf die Propaganda hereingefallen? Ich glaube das nicht. Eine Freundin, die im Kulturbereich tätig ist, sagte mir:
«Seit der Sowjetzeit wissen die Russen instinktiv, wie sie die Staatspropaganda entschlüsseln und die Dinge auseinanderhalten können. Sie schenken ihr nicht zu viel Aufmerksamkeit. Während ihr im Westen euren Führern und Institutionen so sehr vertraut, dass ihr deren Propaganda nicht einmal wahrnehmt.» Ein Denkanstoss!
Mobilisierung für Soldaten
In jedem Fall haben sich die Umfragewerte für Wladimir Putin seit Ende Februar 2022 nicht verändert. Mit rund 70 Prozent Zustimmung bleiben sie sehr hoch. Dabei ist die Zustimmung umso höher, je weiter man sich von den drei grössten Städten Moskau, Sankt Petersburg und Jekaterinburg entfernt.
Die Unterstützung für die Soldaten an der Front (…) hat sogar noch zugenommen. Die Russen lassen sich weder von der Inkompetenz einiger operativer Kommandeure (…) noch von der logistischen Misswirtschaft täuschen, die die ersten Kriegswochen prägten. Im privaten Bereich haben sie nicht mit Kritik gespart. Sie wissen, dass sie sich in erster Linie auf sich selbst verlassen müssen und nichts vom Staat erwarten dürfen.
Doch trotz der schlechten Nachrichten unterstützen viele Russen weiterhin das Vorgehen in der Ukraine. Sie stehen hinter ihren Soldaten. Bemerkenswert ist auch: Hunderte von Zivilisten aus den tiefsten sibirischen Dörfern sind ebenfalls aktiv.
Mit Konvois unterstützen sie Soldaten, die in der Ukraine gegen die NATO-Truppen kämpfen. Sie bringen ihnen Lebensmittel, Schokolade und warme Kleidung. Im Gegensatz zu den städtischen Wehrpflichtigen, die eher zögerlich sind, ist die Zahl der freiwillig Wehrdienstleistenden auf dem Land ungebrochen.
Ein Krieg gegen den Westen
Seit dem Herbst begreift die Mehrheit der Russen: Ihr Land befindet sich nicht nur im Kampf gegen die ukrainischen Nationalisten, sondern gegen den gesamten Westen (…). Auch wissen sie: Es handelt sich um einen lebenswichtigen, existenziellen und langwierigen Kampf. Es geht um das Überleben ihrer Lebensweise und Kultur (…).
Das russische Militär änderte in den letzten Monaten auch seine Strategie. Vom improvisierten offensiven Modus ist man in den organisierten defensiven Modus übergegangen. Man konzentriert sich auf die sichereren Verteidigungslinien (…).
Ziel ist es, die menschlichen Ressourcen und die Ausrüstung so weit wie möglich zu schonen. Nach dem chaotischen Rückzug aus der Region Charkow folgte ein geordneter und erfolgreicher Abzug aus der Region Cherson (…).
Die Strategie der NATO und der USA, die Pentagon-Chef Lloyd Austin im Frühjahr 2022 dargelegt hatte und die darauf abzielt, Russland maximal zu schwächen, haben die Russen zur Kenntnis genommen. Russland versucht nun, sie zu ihren Gunsten umzukehren. Man konzentriert sich darauf, die Truppen zu schonen.
Gleichzeitig lässt man es zu, dass die Ukrainer und NATO-Söldner ihre Kräfte und ihr Material bis zur Ermüdung aufbrauchen. Noch mehr als auf «General» Winter setzt die russische Armee nun auf die Generäle Zeit und Raum. Schon Suworow und Bagration mussten auf die harte Tour lernen, dass Geduld besser ist als Kraft und Wut. Nur mit Geduld kann man auf Dauer siegen.
An der wirtschaftlichen Front
Russland war sich rasch bewusst, dass die gesamten Produktions- und Handelskreisläufe neugestaltet werden mussten. Dies, nachdem Europa sich mehr und mehr von Russland abgekoppelt und als Handelspartner verabschiedet hat.
In Europa ist viel über die Oligarchen und ihre angebliche Opposition gegen Putin berichtet worden. Dabei hat man sich im Westen völlig geirrt (…). Die Sanktionen und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem und den westlichen Bankbeziehungen hatten für die russische Wirtschaft sogar einen positiven Effekt.
Zum ersten Mal wurde die Kapitalflucht unterbunden – sie macht etwa 100 Milliarden Dollar pro Jahr aus und blutete die Wirtschaft seit dreissig Jahren aus.
Von nun an werden sich russische Oligarchen zweimal überlegen müssen, ob sie ihr Geld auf einer Schweizer, europäischen oder amerikanischen Bank deponieren. Seit einigen Monaten versucht die russische Wirtschaft daher, sich an die neuen Umstände anzupassen.
Die Vertriebswege für Öl, Gas, Mineralien, Weizen und Düngemittel gehen neu in Richtung Asien, China, Indien, Iran, Emirate und Saudi-Arabien. Dasselbe gilt für den Import. (…)
Das Beispiel von Weissrussland, einem Land, das an Sanktionen gewöhnt ist und dank seines Gesundheitssystems und seiner pharmazeutischen Ressourcen wohl besser mit Covid umgegangen ist als alle anderen europäischen Länder, zeigt: Die russische Industrie ist durchaus in der Lage, solche Herausforderungen zu meistern. Dies, indem sie ihre Industrieinvestitionen anpasst und sich nicht mehr länger nur auf die träge Öl- und Gasrente verlässt.
Dafür sprechen auch die spektakulären Erfolge, die die Landwirtschaft, die Lebensmittelindustrie, der Luft- und Raumfahrtsektor und die Rüstungsindustrie in Russland nach Beginn der 2014 gegen sie verhängten Sanktionen verzeichnen konnten. (…)
Ein Gefühl der Demütigung
Wie ist die Stimmung in der russischen Bevölkerung? Wie hat sie sich an die neue Situation angepasst? Um es in einem Satz zusammenzufassen: Sie sind mit allen Wassern gewaschen. Man muss sehen: Die meisten Russen haben die Massnahmen, die im Westen gegen die russische Kultur und gegen sie selbst ergriffen wurden, sehr schlecht verkraftet.
Durch die Zensur von Künstlern, Musikern, Sportlern und Wissenschaftlern (…) fühlten sie sich zutiefst gedemütigt. Das gilt besonders auch für die Umschreibung der Geschichte: Der russische Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus ist zuletzt marginalisiert worden.
Für ein Land, das 26 Millionen Opfer im Kampf gegen den Nationalsozialismus mit sich brachte, ist es unerträglich zu erfahren, dass die Landung in der Normandie (50’000 Tote) das wichtigste Ereignis des Zweiten Weltkriegs war.
Diese Ungerechtigkeit hat im Gedächtnis der Russen tiefe und bittere Spuren hinterlassen (…). Russen können verstehen, dass Europa die bewaffnete Intervention in der Ukraine kritisiert.
Sie sehen aber nicht ein, warum Europa, das sich selbst als zivilisiert bezeichnet, Künstler wie Tschaikowski, Tschechow und die Bevölkerung im Allgemeinen in einer in der Geschichte noch nie dagewesenen Verbannungsaktion angreift. (…)
Um Europa trauern
Bei uns scheint das alles eine Kleinigkeit zu sein. Vieles haben wir auch schnell wieder vergessen. Das gilt jedoch nicht für die Russen. Sie fühlten sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs endlich als Teil der grossen europäischen Familie. (…)
Die ersten Verwerfungen zwischen Russland und Europa gehen auf die Münchner Sicherheitskonferenz 2007 und den von Micheil Saakaschwili 2008 entfesselten Krieg in Georgien zurück. 2014 folgte der Maidan-Putsch, bei dem der demokratisch gewählte, ukrainische Präsident Janukowitsch gestürzt wurde. Danach wurde die russischsprachige Bevölkerung im Donbass verbannt. Als Reaktion auf die Krim-Annexion begann eine regelrechte Sanktionswelle.
Diese Differenzen waren jedoch von politischer und geopolitischer Natur. Sie hatten sich noch nicht in einen kulturellen, menschlichen und zivilisatorischen Krieg verwandelt. Das ist jetzt anders. Nunmehr ist der Schnitt klar, tief und radikal.
Bisher hatten die russischen Führungseliten beide Seiten bedient. Sie machten sich die Prinzipien des neoliberalen Kapitalismus zu eigen. Dabei haben sie gleichzeitig die Idee eines unabhängigen, souveränen Russlands gepflegt (…). Der Krieg hat diese Doppelgleisigkeit nun obsolet gemacht. Der Krieg zwingt zu klaren Entscheidungen.
Aus russischer Sicht ist die Aussicht, auf Augenhöhe mit dem Westen zu verhandeln, zuletzt stark beschädigt worden. Dies, nachdem bekannt wurde, dass die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer nie geplant hatten, die Minsker Vereinbarungen einzuhalten. Das haben kürzlich auch der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko sowie Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Ex-Präsident François Hollande bestätigt.
Die Kluft zum Westen wird immer grösser
Auch die ideologische Kluft zwischen Europa und Russland hat sich vertieft. Sie ist kaum noch wiedergutzumachen. Die Russen, sowie auch der Rest der arabisch-muslimischen, asiatischen und afrikanischen Welt, verstehen den Westen immer weniger.
Der im Westen propagierte Liberalismus erscheint immer mehr als eine Ausflucht, um die ständige Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten zu verschleiern. Die auf Geschlecht und Gender basierenden Identitätsentgleisungen (…) – all das ist der Kultur Russlands und des Globalen Südens im Allgemeinen zunehmend fremd geworden. (…)
Für die Mehrheit der Russen ist die Trennung eine Tragödie, da dadurch ihr Traum, als vollwertige Europäer anerkannt zu werden, beendet wird. Sie trauern schmerzlich um Europa, haben sich aber damit abgefunden, die Last zu tragen, egal wie schwer sie auch sein mag.
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Guy Mettan ist Politologe und Journalist. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der Tribune de Genève und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredakteur. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist und Buchautor.
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