Nachrichten

Ukraine - Infos vor Ort

Montag, 24. Oktober 2022 , von Freeman-Fortsetzung um 15:02

 





Produktion im Schatten des Krieges

Im Interview mit Walter van Rossum erzählt ein ukrainischer Landwirt, dass der Anbau trotz des Kriegs weitgehend ungestört weitergehe — wenn es Hunger gebe, seien eher die „Märkte" schuld.

von Walter van Rossum
Foto: Ievgenii Meyer/Shutterstock.com

 

Über die Menschen in der Ukraine wird andauernd gesprochen, mit ihnen jedoch nur selten. Das ist bedauerlich, denn die Menschen vor Ort können uns wertvolle Einblicke vermitteln, die sonst im allgemeinen Propaganda-Geklingel untergehen. Hans Verdongen (48) ist Belgier mit deutschsprachigem Hintergrund. Der gelernte Landwirt lebt seit fast 20 Jahren in der Ukraine und zwar im Grenzgebiet zu Ungarn, wo er einen größeren agrarischen Betrieb leitet. Vom Kriegsgeschehen weitgehend unbehelligt, fährt er seine Ernte ein und verkauft sie in westliche Nachbarländer. Es sei unwahr, dass wegen „der Russen" Produktion und Handel lahmgelegt seien, sagt der Bauer. Vielmehr sorgten Marktmechanismen für die oft horrenden Preise, die sich ärmere Menschen nicht mehr leisten könnten. Auch die Sanktionen gegen Russland schlügen hauptsächlich für die Menschen in den sanktionierenden Ländern selbst durch. Verdongen äußert Verständnis für das Handeln Russlands vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte. Dennoch beklagt er den Krieg als große Tragödie, in der unser Mitgefühl den jungen, getöteten Menschen auf beiden Seiten gelten sollte.

 

Walter van Rossum: Erklären Sie doch bitte, wo Sie leben und was Sie da machen.

 

Hans Verdongen: Ich komme aus der Landwirtschaft und lebe schon ziemlich lange in der Ukraine. Seit ungefähr 10 Jahren leite ich einen Betrieb hier in Transkarpatien, das ist direkt an der ungarischen Grenze, südlich der Karpaten. Und von daher sind wir natürlich weit weg von dem ganzen Kriegsgeschehen im Moment.

 

Wie kommt ein westeuropäischer Landwirt in die Ukraine?

 

Man muss dahin gehen, wo es Boden gibt. Ich hatte mal einen Misserfolg in meiner Heimat, danach habe ich einen Neuanfang gesucht und bin in die Ukraine gegangen. Das war ein Abenteuer, aber ich hab es nicht bereut. Ist ein sehr schönes Land, angenehm nette Leute. Das ist natürlich eine Tragödie, was sich jetzt so entwickelt.

 

Sie bekommen vom Krieg aber gar nicht viel mit?

 

Hier ist nichts Militärisches. In der ganzen Zeit ist einmal eine Trafostation für die Eisenbahn in den Bergen beschossen worden. Das war's. Dafür sind sehr viele Menschen aus den Kriegsgebieten gekommen und leben hier jetzt. Diese Menschen erzählen so einiges. Die humanitäre Hilfe im Frühjahr war wirklich sehr hilfreich!

 

Wie ist die landwirtschaftliche Situation, können Sie produzieren, wie Sie immer produziert haben?

 

Wir leben hier, wie gesagt, komplett ungestört. Es gibt alle notwendigen Betriebsmittel. Das ist auch fast in der ganzen Ukraine bisher so gewesen. Die Ukrainer sind schon sehr flexibel, was die Logistik und so weiter betrifft. Alle haben sich sehr viel Mühe gegeben. Die eigentliche Bewirtschaftung der Flächen, die ist tatsächlich kaum eingeschränkt. Es gibt nur ganz wenige Hektar, die nicht bearbeitet worden sind. Nach dem Rückzug im Frühjahr, sind auch da, wo die Panzer gefahren sind, die Flächen wieder bewirtschaftet worden. Minen oder Munition wurden sehr schnell geräumt. Und dann wurde dort wieder alles bestellt. Eigentlich kann man sagen, nur nahe den Kampfhandlungen wird nicht gearbeitet. So ist bis jetzt in diesem Jahr die Situation gewesen.

 

Also der größte Teil der landwirtschaftlichen Fläche wird bearbeitet wie immer.

 

Ja, wie immer. Die Landwirte sind zäh, die Ukrainer sind sehr hart im Nehmen. Wirklich nur da, wo Kampfhandlungen stattfinden, ist das nicht möglich. Das ist aber im Verhältnis nicht so viel.
Was sich jetzt natürlich krass auswirkt, sind die gestörten Logistikabläufe. Das heißt, die Ukrainer hatten 2021 eine sehr gute Ernte und haben bis März bei Weitem nicht alles exportieren können. Das sind die Erntemengen, die jetzt noch in der Ukraine liegen, von denen immer gesprochen wird. Jetzt kommt die neue Ernte dazu, und die ist dieses Jahr gut, weil das Wetter mitspielt. Und Landwirte wie wir, die nahe der Grenze zur EU arbeiten, wir können immer noch ganz gut unsere Produkte zu akzeptablen Preisen verkaufen. Die Logistikkosten nach Europa sind für uns zwar auch hoch, aber nicht exorbitant. Um mal Zahlen zu nennen: Wir bezahlen im Moment für den Export Richtung Ungarn und Slowakei per LKW 40 Euro die Tonne. Das ist noch akzeptabel. Das ist zwar viel mehr als zu Nichtkriegszeiten, da hätten wir etwa 15 Euro pro Tonne für den Transport bezahlt.

 

Betriebe, die jetzt ein bisschen weiter weg liegen, in Ternopil oder Chmelnyzkyj in der Westukraine, die müssen sicherlich so mit 60 bis 70 Euro pro Tonne rechnen. Aber Betriebe, die in der Zentralukraine liegen, im Kiewer Gebiet oder auch östlich von Kiew. Poltawa, Charkow oder Sumy, die haben exorbitant hohe Logistikkosten von 100 bis160 Euro die Tonne. Wenn im Moment 280 Euro an der Europäischen Grenze pro Tonne bezahlt werden und Sie davon 160 Euro für Transport abziehen, dann bleiben 120 Euro für eine Tonne Getreide. Das liegt weit unterhalb der Herstellungskosten. Das sind reine Notverkäufe.

 

Und wie haben Sie früher exportiert? Über den Schiffsweg?

 

Wir haben unseren Weizen hier vor Ort verkauft, in Transkarpatien ist Weizen knapp. Wir haben hier nur relativ wenig Agrarfläche, meistens haben wir Produkte wie Mais oder Sojabohnen per Bahn exportiert.

 

Und das geht im Moment nicht?

 

Doch das ginge theoretisch, ja. Wir haben im Moment leider Gottes unseren Terminalzugang verloren, weil dort ein starker Händler die gesamten Kapazitäten angemietet hat. Ich denke aber, dass wir Soja, Weizen und Mais noch in den Zug bekommen.
Im Übrigen würde ich gerne noch mal darauf hinweisen, dass es meines Erachtens global genug Getreide gibt, doch sehr große Mengen werden zu Ethanol und Stärke verarbeitet. Ansonsten ist das eine Angelegenheit der „Märkte": Die Hungernden haben schlicht zu wenig Geld für diese Marktpreise. Ich glaube eher, dass die Russen Recht haben, wenn sie über die verheerenden Auswirkungen der Sanktionen sprechen.
Sie haben kürzlich gesagt: „Ich umfahre die Westukraine weitläufig." Was meinen Sie damit?

 

Russland redet von einer Spezialoperation, wir im Westen reden davon, dass Russland gegen die Ukraine und uns einen Krieg führt. Aber faktisch ist es ja doch so, dass die Nato-Länder Deutschland sowie die USA meines Erachtens eher Kriegsparteien sind. Und alle konnten auf alternativen Kanälen verfolgen, wie da die Züge rollten mit Leopard-Panzern oben drauf, die alle schön in olivgrün, aber ohne Abzeichen in Richtung Osten gebracht wurden. LKWs mit schweren Panzern drauf fuhren in Kolonnen.

 

Und in Rzeszow (Polen) ist ein relativ großer Flugplatz, der im Moment hauptsächlich vom Militär genutzt wird. Da landen jeden Tag etliche Riesentransportmaschinen aus dem Westen. Das sind massive Umschlagsplätze. Wenn es den Russen reicht, dann gibt es vorher keine Warnung. Und wenn die bombardieren, dann vermutlich zuerst in der Westukraine und Ostpolen, da wo die Waffen stehen. Deshalb mache ich nach wie vor einen großen Bogen um die Gegend von Lviv.

 

Welche Informationen haben Sie über den Krieg?

 

Hier bei uns gibt es viele Leute, die den Krieg sehr kritisch sehen. Durch die Grenznähe zu Ungarn und zur Slowakei bekommen wir hier umfangreichere Informationen. In der Ukraine sind ganz viele Seiten im Netz gesperrt, aber über die Slowakei können wir zum Beispiel RT empfangen.

 

Welche Medien verfolgen Sie?

 

Hauptsächlich alternative Medien. Seit Corona, seit Sommer 2020, bin ich auf KenFM aufmerksam geworden. Und dann habe angefangen, mir die Zahlen anzuschauen, weil mir die ganze Sache immer seltsamer vorkam. Und als es dann mit der Impferei losging, wurde ich immer skeptischer. Man merkte auch, wie der Freundeskreis immer dünner wurde. Jedenfalls, seit der Coronazeit bin ich immer kritischer geworden. Früher war ich jahrzehntelang Spiegel-Leser. Aber den Spiegel habe ich lange vor Corona abbestellt. Das wurde immer schlimmer.

 

Eine Zeit lang hatte ich dann Cicero gelesen. Aber das Abo habe ich im September '20 gekündigt. Dann habe ich es mit dem Freitag versucht. Aber hier war mal ein Journalist vom Freitag, um über die Minderheiten in Transkarpatien zu berichten, als der anfing mit Bergamo und so weiter, das war's dann für mich. Seit zwei Jahren verfolge ich eigentlich nur Alternativmedien über das Internet. Rubikon ist für mich wichtig. RT schaue ich bei Gelegenheit. Und bei ntv informiere ich mich, welche Sau denn gerade wieder propagandamäßig durchs Dorf getrieben wird. In der Hinsicht ist auch die Tagesschau sehr informativ.

 

Was sagen Sie zu der Berichterstattung aus Deutschland über die Ukraine und den Krieg?

 

Der Main-Stream ist reine Kriegspropaganda, das hat mit Berichterstattung nichts zu tun. Reine Propaganda, schlimmste Propaganda!
Da wird gerne von toten russischen Soldaten berichtet, mit so einem gewissen freudigen Ton. Aber es sterben auch sehr viele Ukrainer! Ich bin entsetzt, wie gestandene, studierte Leute auf den Quatsch reinfallen.
Die kapieren gar nicht, wie Deutschland oder Europa gerade platt gemacht werden mit den Energiepreisen. Man muss aber verdammt aufpassen, was man zu wem sagt. Kritische Leute werden hier ganz schnell vom SBU eingesammelt. Die fackeln nicht lange. Wer sich im Netz auf den falschen Seiten tummelt, ist schnell weg. Also teilweise verschwinden die Menschen einfach. Ich meine, hier gibt's im ganzen Land keine freie Berichterstattung, auch vor Februar 2022 war das schon so.

 

Es ist sehr schwer, sich ein Bild zu machen. Und natürlich kann ich die Ukrainer gut verstehen. Aus ihrer Sicht fallen die Russen in ihr Land ein und zerstören und töten. Niemand hat sie eingeladen. Leute verlieren Haus und Hof, ihren Besitz und so weiter. Auch was man aus den besetzten Gebieten hört, ist nicht immer nur Friede Freude Eierkuchen. Das ist schon heftig, was auch da auf russischer Seite passiert. Aber leider gibt es keine klare Berichterstattung.

 

Können Sie nachvollziehen, wie es zu diesem russischen Einmarsch kam?

 

Ich glaube, dass John Mearsheimer das sehr gut analysiert hat. Die Russen haben sich acht Jahre lang angeschaut, was da in Donezk und Luhansk passiert. Diese Bombardierungen haben den Westen nicht im Geringsten interessiert. Auch Deutschland und Frankreich war das völlig egal, dass die Ukraine sich kein bisschen an die Minsker Verträge gehalten hat.

 

Und man munkelt ja, dass da irgendwann im Februar in Tschernobyl irgendwas Komisches vor sich gegangen sein soll, weshalb die Russen das ja auch sofort besetzt haben. Es gab ja durchaus die Möglichkeit, dass Selensky im Februar den Befehl zum Bau von Atomwaffen gegeben hatte, so hatte er es ja auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz angekündigt. Und da wurde es für die Russen wirklich höchste Zeit.

 

Ich glaube, den Russen wäre es lieber gewesen, die Ukraine hätte sich auf Verhandlungen eingelassen. Neutralität und Donezk das wäre verhandelbar gewesen. Russland wollte diese Republiken doch gar nicht haben. Und ohne Krieg wäre es für die Ukrainer sehr viel besser gewesen. Aber das war halt nicht der Plan der Amerikaner. Und Europa hat halt keinen Arsch in der Hose. Die machen da immer alles mit.

 

Es heißt ja immer in diesen wunderbar heroischen Ansprachen, der Westen verteidigt in der Ukraine die westlichen Werte gegen den Ansturm totalitärer Barbaren. Wie ist das mit den westlichen Werten in der Ukraine?
Bei den sogenannten westlichen Werten fällt mir erstmal „Doppelmoral" ein. Es gibt ja keinen Zweifel, dass die Amerikaner andauernd irgendwelche Kriege anzetteln und mit irgendwelchen Lügen begründen. Und das müssten wir irgendwann realisieren. Im Westen leben viele auf rosaroten Wölkchen. Die sollten allmählich mal aufwachen.
Offenbar muss schon ein ganz schöner Sturm kommen, damit die die Realität sehen. Ich hab ja auch lange gebraucht, erst wegen Corona und der weiteren Entwicklung bin ich wach geworden. Da gab es so ein paar Offenbarungserlebnisse. Ich habe bei KenFM viel gesehen. Ich denke da zum Beispiel an ein zweistündiges Gespräch von Ken Jebsen mit Rainer Mausfeld.

 

Sind Sie sehr isoliert mit ihrer Haltung auch zum Krieg? Also Einzelkämpfer oder gibt es noch ein paar Leute, die das ähnlich sehen?

 

Also hier bei uns in der Ukraine sehen immer mehr, dass das so wohl nichts Gutes wird. Da kommt langsam Ernüchterung auf. Speziell in meiner Gegend hier gibt es sehr viele, die das genauso sehen wie ich und das als Tragödie betrachten - die sagen: Scheiße, Scheiße, Scheiße.

 

Ich lieg manchmal wach im Bett in der Nacht, ja und dann denk ich an die Jungs, die sich jetzt gegenseitig umbringen, Russen und Ukrainer. Das sind 20- bis 25-jährige, das sind Bubis. Diese schlaksigen Bubis kriegen so ein AK47 in die Hand, paar Magazine und dann los: Da vorne ist der Russe. Bei dieser Cherson Offensive, da ist wohl eine ganze Brigade aus Transkarpatien draufgegangen. Ich glaube, sieben Mann von der Brigade haben überlebt. Ein älterer Soldat, der verwundet wurde, hat mir erzählt: „Das ist Wahnsinn, was da passiert." Also die allermeisten, die jetzt zurückkommen, sagen allesamt: Die „Russen" seien gut ausgerüstet, die wissen, was sie tun. Das ist alles Propaganda, was man uns da erzählt, dass die Russen am Ende seien.

 

Weiß der Herr Selensky, was er tut?

 

Ja, sehr wahrscheinlich ja. Nur hilft es der Ukraine?

 

Wie ist die demokratische Verfassung der Ukraine? Wie gesagt der Westen verteidigt ja in der Ukraine angeblich seine östlichste Demokratie. Würden sie die Ukraine als eine funktionierende Demokratie bezeichnen?

 

2014 war ich natürlich auch froh über dem Maidan. Das hat sich geändert, als relativ schnell bekannt wurde, dass dort die Sniper in beide Richtungen geschossen haben und man dann versucht hat, das den Russen in die Schuhe zu schieben. Das konnte ich nicht verstehen, warum der „Russe" denn in beide Richtungen schießen sollte. Warum er überhaupt schießen sollte?

 

Wir waren froh, dass man mit der Korruption aufräumen wollte und, dass der Herr Janukowitsch weg war. Eigentlich ja. Dann ging's mit Poroschenko weiter. Aber als dann die Armee in den Donbass geschickt wurde, da hab ich schon gedacht, dass es falsch läuft. Die ukrainische Armee hatte damals ja wirklich Verluste erlitten. Acht Jahre ging der Krieg dort, aber schon 2014 sind ja die russlandfreundlichen Parteien verboten worden.

 

Können Sie jetzt etwas gegen den Krieg sagen, ohne sich Ärger einzuhandeln?

 

Ich sag mal, das ist natürlich ein Unterschied, was man hier im kleineren Kreis am Stammtisch erzählt oder was man in der Öffentlichkeit sagt. Da muss man aufpassen. Es herrscht Kriegsrecht. Da sind bestimmte Äußerungen unerwünscht

 

War das auch vor dem Krieg schon so?

 

Vor dem Krieg war das nicht so. Aber zum Beispiel im Winter vor dem Krieg, als ein paar Aktivisten gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren wollten, wurden die schnell an die Kandare genommen.

 

Wie geht es weiter, haben sie eine Idee?

 

Wie es jetzt weiter geht?
Meine Prognose? Ich denke, der Krieg geht weiter. Russland hat noch mehr als 750.000 Soldaten in der Hinterhand. Ich hoffe, dass die Ukrainer irgendwann vernünftig werden und einen Frieden verhandeln. Dafür müssten die Ukrainer sich frei von westlichen Einflüssen machen. Sonst geht der Krieg weiter, dann wird Russland wahrscheinlich den Donbass für sich einsammeln.
Russland hat es bis jetzt geschafft, dass die Zahl der gefallenen Soldaten sehr viel höher ist als die der Zivilisten. Ich denke, das spricht sehr für Russland, dass sie nicht wie die Amerikaner vorzugehen pflegen und Zivilisten möglichst verschonen.

 

Bräuchte man eine neue Regierung für Verhandlungen? Gibt es denn in der Ukraine das Personal dafür?

 

Ist mir nicht bekannt, wie das laufen könnte. Es wird eine große Erschöpfung geben. Die Ukraine ist wirtschaftlich demnächst am Ende. Wenn da nicht Überweisungen aus dem Westen kommen, geht hier sofort das Licht aus, aber sofort. Ich meine das wörtlich. Wir haben hier sehr viel Plattenbauten, die sind meist schlecht isoliert und werden von zentralen Gasheizwerken mit Wärme versorgt. Im Januar gibt es regelmäßig minus 15 bis minus 20 Grad Frost, wenn die Rohre nicht richtig beheizt werden, dann dauert das einen Tag, bis die Rohre kaputtgefroren sind. Die Städte werden dann unbewohnbar.

 

Wie stehen die Ukrainer zur EU? Ist das für die wirklich eine Perspektive?

 

Die Ukrainer wollen natürlich auch ihren Wohlstand haben, die wollen auch besser leben. Da hat sich in den letzten 15 Jahren vieles ganz gut entwickelt. Das muss man schon sagen. Nicht nur hier, auch in Russland. Vor dem Krieg ging es wirtschaftlich schon in eine ganz gute Richtung. Jetzt müsste man allerdings mal analysieren, was davon wirklich aus eigener — ich sag mal: — Wertschöpfung passiert ist und welchen Anteil das Geld hat, das der Westen hier reingepumpt hat.

 

Nicht erst seit dem Maidan ist sehr viel Geld aus dem Westen in die Ukraine geflossen, um auch hier die — sagen wir mal: — Strukturen am Laufen zu halten. Und wenn Sie jetzt in Kiew sind, da sehen Sie dann mehr dicke Autos als in Hamburg oder in Berlin. Aber das Geld dürfte zu einem ordentlichen Teil aus dem Westen stammen. Die Ukraine hat sich in diesen Jahren weiter verschuldet. Und wenn man ehrlich ist, durch den Krieg wird die Ukraine sich enorm weiter verschulden. Die Schulden werden so exorbitant sein, dass das Land sich über viele Jahrzehnte davon nicht erholt.

 

Uns steht wirklich eine spannende Zeit bevor. Es geht um alles oder nichts. Wenn wir diese Verwerfung, die jetzt auf uns zukommen, einigermaßen vernünftig überstehen wollen, dann kann man nur hoffen, dass genügend Menschen anfangen nachzudenken und nicht wieder den falschen Versprechungen auf den Leim gehen. Das scheint mir im Moment auch in Deutschland das Problem. Die Menschen müssen auch mit sich selbst ins Reine kommen, um halbwegs sachlich die Probleme zu lösen, die da auf uns zukommen.

 

Wir müssen aus diesen Verblendungen irgendwie rauskommen. In der Ukraine war die Nato-Begeisterung schon vor dem Krieg eher gering und jetzt erst recht. Heute denken viele: Wir wollen unabhängig sein, wir wollen die Russen hier nicht haben, aber die Nato brauchen wir auch nicht. Das wäre ja auch für Deutschland eine ganz tolle Sache, wenn wir Deutschen auf die Idee kämen, dass wir die Amerikaner nicht im Land brauchen. Wenn es so weit ist, die Ukraine und meine Heimat frei sind, mache ich Urlaub und betrinke mich vor lauter Glück 14 Tage lang.

 

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Rubikon10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.
 
Walter van Rossum
Walter van Rossum ist Autor, Medienkritiker und Investigativjournalist. Er studierte Romanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Paris. Mit einer Arbeit über Jean-Paul Sartre wurde er 1989 an der Kölner Universität promoviert. Seit 1981 arbeitet er als freier Autor für WDRDeutschlandfunkZeitMerkurFAZFR und Freitag. Für den WDR moderierte er unter anderem die „Funkhausgespräche". Zuletzt erschien von ihm im Rubikon-Verlag „Meine Pandemie mit Professor Drosten: Vom Tod der Aufklärung unter Laborbedingungen".
 
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.
 
 

insgesamt 0 Kommentare: