Ein ehemaliger Diplomat zeigt die Entstehungsgeschichte der Nahost-Konflikte. Sein Buch ist eine harte Kritik an USA und Israel. 

«Bitter ist die Wahrheit, ich will sie aus dem Munde werfen», schrieb Francisco de Quevedo, der grosse Dichter und Kulturkritiker des spanischen Barocks. Kurt O. Wyss hätte diesen Vers unterschrieben. Er war einer, der die bitteren Erkenntnisse einer lebenslangen Diplomatentätigkeit im Nahen Osten loswerden wollte und musste. Und er nahm kein Blatt vor den Mund. Seine schnörkellose Rede hat wahrscheinlich hin und wieder bewirkt, dass routinierten Schweizer Karriere-Diplomaten die Haare zu Berge standen. Aber es zeugt von Mut und Bravour, wenn einer die Unbotmässigkeit besitzt, ohne Rücksicht auf diplomatische Verpackungen zu sagen, was er als Fakten wahrnimmt. Im Vorwort zu seinem letzten, posthum erschienen Buch schreibt er: 

«Wiewohl die Politik der Amerikaner sowie ihrer Adlaten im Vorderen Orient von einer Katastrophe in die nächste schlittert, ist es schwer verständlich, dass die europäischen Entscheidungsträger all diese Zusammenhänge kaum sehen wollen. Statt eine eigenständige Politik zu vertreten, lassen sie sich von den USA vereinnahmen und bemühen angesichts der weit verbreiteten Islamophobie und Furcht vor der ‘dschihadistischen Bedrohung’ das Bild einer angeblich für Demokratie und Menschenrechte eintretenden ‘westlichen Wertegemeinschaft’ diesseits und jenseits des Atlantiks. Die Berichterstattung der westlichen Medien über die Krisengebiete des Vorderen Orients folgt einem ähnlichen Muster (…) Statt die Entwicklung des Scheiterns westlicher Politik darzustellen, wird verharmlost und um Verständnis für diese Politik geworben.»

Kurt O. Wyss war in seiner 32jährigen Laufbahn als EDA-Diplomat, davon 17 Jahre als Botschafter, unter anderem in Jordanien, Syrien und in der Türkei stationiert. Sein grosses Thema war von Anfang an die israelische Politik in den besetzten Gebieten. Diese Politik betrachtete er als katastrophal fehlgeleitet. 2013 erschien sein Buch «Wir haben nur dieses Land – Der Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller Nahostkonflikte». Das Vorwort schrieb der langjährige NZZ-Nahost-Korrespondent Arnold Hottinger. Sowohl Wyss als auch Hottinger mussten immer wieder erfahren, dass jede Kritik an der Politik der israelischen Regierung reflexartig den billigen Vorwurf des Antisemitismus auf sich zieht. Sie haben sich beide durch solche Attacken nicht von ihren Einschätzungen abbringen lassen.  

Als Kurt O. Wyss 2004 aus dem diplomatischen Dienst ausschied, muss das für ihn eine Erleichterung gewesen sein. Seine Frau, Françoise Wyss-Labasque, schreibt, er «freute sich darüber, dass er jetzt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten, keine Rücksicht auf den früheren Arbeitgeber, das Departement, nehmen musste. Er konnte seine Gedanken mit der ihm richtig scheinenden Schärfe zu Papier bringen.»

Das tat er dann auch. Als Wyss im Januar 2019 starb, hatte er das Manuskript zu einem weiteren Buch fast fertiggestellt, welches jetzt unter der Obhut von Mitarbeitern erschienen ist. Es trägt den Titel «Die gewaltsame amerikanische-israelische ‘Neuordnung’ des Vorderen Orients». Es ist – wie der Titel andeutet – zwar eine erbarmungslose Kritik der Politik des Westens, es überzeugt aber mit Faktengenauigkeit und Detailwissen. Wenn die Länder zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf heute Kriegs- und Krisengebiete sind, dann führt Wyss dies zurück auf die verheerenden Folgen der Politik der USA und ihres Verbündeten Israel. 

Das Frappierende an seiner Darstellung ist, dass er einer mächtigen pro-israelischen Lobby in den USA bedeutend mehr Einfluss auf die Nahost-Politik Washingtons zuschreibt, als allgemein angenommen wird. In der Sicht von Wyss wedelt der Schwanz mit dem Hund, Israel bestimmt Feindbilder, Strategie und den jeweiligen Militäreinsatz und bekommt meist grünes Licht aus Washington. Wyss weist mit einer Fülle von Details nach, dass die sogenannten Neokonservativen vom Schlage eines Richard Perle oder Paul Wolfowitz in enger Zusammenarbeit mit nationalistisch-jüdischen Kräften und christlichen Fundamentalisten den Plan einer «Neuordnung» des Nahen Ostens fassten. Und diese Neuordnung bedeutete, dass die arabischen und muslimischen Gesellschaften, die als Feinde Israels gelten, aufgebrochen und zerschlagen werden sollten.  

Wyss zitiert unter anderen wenig bekannten Dokumenten aus einem Strategiepapier mit dem Decknamen «Clean Break» von 1995. Unter der Leitung von Richard Perle formulieren dort renommierte Neokonservative verschiedener Think Tanks den Plan, den Friedens-Prozess, wie er in den Oslo-Vereinbarungen vorgesehen war (Land für Frieden) über den Haufen zu werfen. Denn zionistische Ideale wie «das unveräusserliche Recht auf 2000jähriges jüdisches Land» würden dort preisgegeben. Israel müsse die «strategische Initiative» ergreifen, was unter anderem bedeute: Die Hisbollah im Süden von Libanon müsse militärisch neutralisiert werden und Syrien, das der Hisbollah Unterstützung gewähre, müsse geschwächt, das dortige Alawiten-Regime destabilisiert werden. Dies könne realisiert werden in Zusammenarbeit mit der Türkei und Jordanien, aber auch mit einem Irak nach dem Sturz von Saddam Hussein. Die Aufsplitterung der arabischen und muslimischen Feindstaaten in ethnische und religiöse Gruppen, das Schüren permanenter Bürgerkriege seien ein Mittel, die Vorherrschaft Israels zu sichern. (S. 54) Die ehemalige US-Aussenministerin Condoleezza Rice hantierte später mit Begriffen wie «konstruktive Instabilität» oder «konstruktives Chaos». 

Wyss resümiert: «In diesem Strategiepapier werden Entwicklungen vorweggenommen, die sich unter der Administration von Präsident George W. Bush und unter Ministerpräsident Sharon sowie auch unter dessen Nachfolgern Olmert und Netanyahu zum ernsthaften Versuch verdichten sollten, den Orient nach amerikanisch-israelischen Vorstellungen umzugestalten und neu zu ordnen.» 

Wie diese Umgestaltung aussieht, kann man heute im Irak, in Libyen, im Libanon, in Jemen oder in Syrien besichtigen. Syrien zum Beispiel wurde durch den Krieg zerstückelt in Besatzungsgebiete von türkischen, kurdischen und US-amerikanischen Truppen sowie in eine «Schutzzone» Idlib für islamistische Extremisten. Dass Bashar al-Assad noch über einen Teil seines Landes regiert, war von Washington und Tel Aviv nicht geplant.

Die konkurrenzlose Public-Relations-Macht der amerikanisch-israelischen Lobby bewirkt laut Wyss, dass die grossen westlichen Medien in der Regel jede Einsicht in diese Zusammenhänge vermissen lassen. Zum Standard-Repertoir westlicher Journalisten gehört bis heute die Argumentation, der Ursprung des Syrienkrieges sei der «arabische Frühling». Dieser habe im Frühjahr 2011 zu einem Aufstand gegen Präsident Bashar al-Assad geführt und in der Folge hätten die USA sich veranlasst gesehen einzugreifen, um dem «unterdrückten syrischen Volk zu Hilfe zu eilen». 

Der Aufstand hat zweifellos stattgefunden, und das damalige Klima der Revolte in der arabischen Welt hat dazu beigetragen. Dass da aber die USA – in Komplizenschaft mit Katar, Saudiarabien und Nato – die Gelegenheit nutzten, Strategien für Regime Change umzusetzen, die seit langem beschlossene Sache waren, wird geflissentlich übersehen. 

2009 war ein neues US-Trainingscenter für «irregular warfare» in Jordanien in Betrieb gegangen. Der Aufstand begann dann auch 2011 im Süden von Syrien an der jordanischen Grenze, und das CIA-Team in Benghazi hatte die Aufgabe, Waffen aus Libyen für den Aufstand in Syrien zu liefern, wie später aus einem Bericht des US-Kongresses hervorging. 

Wyss zitiert aus einem Mail der US-Aussenministerin Hillary Clinton, die im Dezember 2012 die Strategie umreisst:

«Assad zu beseitigen wäre nicht allein ein unermesslicher Segen für die Sicherheit Israels, es würde auch die verständlichen Ängste Israels mindern, sein nukleares Monopol zu verlieren. Im nächsten Schritt könnten sich dann die Vereinigten Staaten und Israel gemeinsam darauf verständigen, von welchem Punkt an die iranischen Atomanreicherung so gefährlich wird, dass ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt erscheint.»

Im selben Mail unterläuft Hillary Clinton eine fatale Fehleinschätzung. Sie prognostiziert, dass Russland stillhalten und sich fügen werde, wenn die USA in Syrien intervenierten. Russland habe ja schon trotz seiner ethnischen und politischen Bindungen zu den Serben «wenig mehr getan, als sich zu beklagen», als die Nato Belgrad bombardierte.

Dass Russland drei Jahre später dem syrischen Hilfsersuchen nachkam und auf Seiten Assads in den Krieg eingriff, war für die USA und ihre Nato-Partner eine böse Überraschung. Die russische Luftwaffe verhindert einen Sieg der von den USA, Katar und Saudiarabien finanzierten Aufständischen. Westliche Medien hatten diese als demokratische «Rebellen» und Freiheitskämpfer dargestellt, mussten aber zur Kenntnis nehmen, dass die weit mehr als tausend Milizen-Gruppen auf dem syrischen Schlachtfeld durchsetzt und letztlich dominiert wurden von dschihadistischen Fundamentalisten.

Die Wende im Syrienkrieg war für die Hardliner in Washington und Tel Aviv ein Trauma. Wyss hält fest: «Dies kommt einem grandiosen Scheitern der von den USA und Israel angestrebten Politik des Regimewechsels gleich. Weil man diese Niederlage nicht offen eingestehen kann, wird das westliche Kesseltreiben gegen Russland erhöht. Damit soll die russische Anmassung bestraft werden, die amerikanische Hegemonialstellung im Nahen und Mittleren Osten erfolgreich herauszuforderen.»

Eine der treffendsten Schilderungen der Beziehungen zwischen Israel und den USA stammt vom linksliberalen israelische Spitzenpolitiker Avraham Burg, ehemaliger Vorsitzenden der Jewish Agency und der World Zionist Organization. Kurt O. Wyss zitiert ihn im Zusammenhang mit der von israelischen Hardlinern verbreiteten Vorstellung, Israel sei «ein Mini-Amerika im Wilden Osten», gleichsam eine Bastion westlicher Zivilisation unter den Wilden:

«Israel spielt den Cowboy, und die Juden Amerikas bieten strategische Hilfestellung, indem sie jede US-Regierung zwingen, Israel zu unterstützen. Dafür unterstützt Israel die amerikanische Regierung, die von den jüdischen Organisationen unterstützt wird, die wiederum Israel unterstützen und von Israel unterstützt werden. Was ist daran auszusetzen, dass man sich gegenseitig den Rücken kratzt?» (Wyss, S. 31)

(Avraham Burg: Hitler besiegen. S. 129 ff.)