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Wo Israel sein wahres Gesicht zeigt
In Gaza darf der Staat Israel für seinen Vergeltungskrieg auf Verständnis zählen. Aber im Westjordanland hat niemand Israel angegriffen. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Eine provisorische Bleibe für die Vertriebenen. / © Basler Zeitung
Ein am Weltgeschehen interessierter Leser schreibt mir: Siehst du denn nicht, was die Hamas am 7. Oktober getan haben? Ist es da nicht verständlich, dass Israel reagiert hat? Dass die Armee in den Gazastreifen einmarschiert ist, um das Netzwerk der Hamas ein für alle Mal zu zerstören?
Doch, antworte ich, aus israelischer Sicht ist es verständlich. Nachdem hunderte von Israeli durch die Terroristen entweder verschleppt oder getötet worden waren, konnte der Staat nicht untätig bleiben. Das israelische Militär musste – aus israelischer Sicht – mit aller Macht zurückschlagen.
Das würde ich antworten. Aber dann würde ich sagen: Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Westjordanland. Hören wir, was die palästinensische Familie von Abu und Aum Nayef gerade erlebt hat. Aufgeschrieben hat es eine deutschsprachige Journalistin, die auch für die Basler Zeitung schreibt.
Der 65-jährige Abu Nayef ist Beduine. Vor 40 Jahren hat er sich sesshaft gemacht. Seither lebte er mit seiner Familie in Wadi al-Seeq, nicht weit von Ramallah entfernt. Viele andere Familien lebten auch in der Siedlung. Insgesamt etwa 200 Menschen. Sie bewohnten einfache Häuser und Hütten, und auf den umliegenden Feldern liessen sie ihre Tiere weiden.
Alles begann im Februar dieses Jahres, als ein bekanntes Mitglied der israelischen Siedlerbewegung etwas oberhalb von Wadi al-Seeq einen Aussenposten errichtete – der erste Schritt zu einer jüdischen Siedlung. Die Beduinen wurden nach und nach ihrer Weideflächen und Quellen beraubt. Auch Tiere von ihnen verschwanden plötzlich. Einmal wurde ein Jugendlicher von einem Siedler geschlagen. Als Abu Nayef ihn schützen wollte, schlugen die Siedler auch ihn. Das war der Auftakt. Von Woche zu Woche wuchs die Befürchtung der Palästinenser.
Und dann, am 12. Oktober, fünf Tage nach der Terrorattacke der Hamas, tauchten zwei Dutzend jüdische Siedler am Dorfrand auf, vermummt und von bewaffneten Soldaten begleitet. Sie befahlen die Räumung der Siedlung. Eine Stunde Zeit gaben sie den Bewohnern, um zu verschwinden.
Benachrichtigt von Abu Nayef, erschienen alsbald drei palästinensische Behördenvertreter in Wadi al-Seeq. Ausserdem trafen mehrere israelische Aktivisten ein, die sich gegen die Siedlungspolitik engagieren. Währenddessen begannen die verstörten Bewohner damit, ihre nötigsten Habseligkeiten in ihre Autos zu packen. Trotz der Anwesenheit von Menschen, die ihnen helfen wollten, wussten sie, dass sie keine Chance gegen die Eroberer hatten.
Wenig später kehrten die Siedler und die Soldaten zurück, um den Flüchtenden Beine zu machen. Beobachter konnten sie dabei nicht gebrauchen. Die israelischen Aktivisten und die palästinensischen Behördenmitglieder wurden deshalb kurzerhand festgenommen. Doch während die jüdischen Aktivisten von ihren Landsleuten nur beschimpft und beleidigt wurden, erlebten die drei Palästinenser eine etwas weniger nette Behandlung. Sie wurden gezwungen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen, sie wurden gefesselt, dann verband man ihnen die Augen, dann wurden sie in den Sand gedrückt, dann trat man ihnen gegen den Kopf, und dann schreckten die Peiniger nicht einmal davor zurück, über den Wehrlosen zu urinieren.
Erst Stunden später, als weitere Vertreter der Autonomiebehörde alarmiert worden waren, liessen die Armeeangehörigen von ihren Opfern ab. Die Aktivisten aus Israel hatten sie vorher schon weggescheucht. In der Folge verbreiteten die Soldaten einen gelungenen Schnappschuss, der die drei gedemütigten Palästinenser gefesselt, halbnackt, mit verbundenen Augen, im Wüstensand liegend zeigt. Darunter schrieben sie voller Hohn, sie hätten drei Terroristen gefangen.
Inzwischen hat die regierungskritische israelische Zeitung «Haaretz» über die Misshandlung der drei Palästinenser berichtet, worauf die damit konfrontierte Armeebehörde von Fehlern sprach. Man habe den Kommandanten der beteiligten Truppe entlassen und «eine Untersuchung eingeleitet»: Ein Satz, der den israelischen Streitkräften leicht von den Lippen geht. Wer fragt schon nach, was die Untersuchung ergeben hat? Wer interessiert sich dafür, wo der angeblich entlassene Kommandant jetzt sein Unwesen treibt?
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Die Grossfamilie von Abu Nayef, die aus 6 Erwachsenen, 3 Jugendlichen und 8 Kindern besteht, hat mehrere Kilometer von Wadi al-Seeq entfernt eine provisorische Bleibe gefunden. Die Vertriebenen wohnen in Zelten, das Wasser holen sie aus einem rostigen Tank, den Strom zum Kochen liefert ihnen das einzige mitgebrachte Solarpanel. Ihre Herde, zwei Dutzend Schafe und zwei Esel, suchen auf einer nahen Weide nach Gras.
Nur das Nötigste haben sie mitnehmen können. Eine Woche nach ihrer Vertreibung erlaubte ihnen das Militär, ihre restlichen Sachen zu holen. «Aber alles war zerstört», erzählt Abu Baschar, auch er ein ehemaliger Dorfbewohner, «und die Säcke mit dem Futter für die Tiere waren auf dem Boden ausgeleert worden.»
Reporter der Agence France Presse AFP bestätigten die Zerstörung. Sie berichten von ausgeräumten Schränken, kaputten Kinderbetten, zerrissenen Vorhängen, auf dem Boden verstreuten Dokumenten, Sandalen und Spielzeug.
Seither können die Vertriebenen nicht mehr zurück in ihr Dorf, weil die Siedler die Zufahrt bereits versperrt haben. Beschwerden beim Militär nützen nichts. Der Ort, der seit Jahrzehnten für viele palästinensische Familien ein Zuhause war, gehört jetzt den jüdischen Siedlern. Nicht rechtlich. Aber tatsächlich.
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Die Geschichte der gewaltsam Vertriebenen von Wadi al-Seeq reiht sich ein in eine unendliche Liste palästinensischer Familien, die ihr Zuhause an jüdische Siedler verloren haben. Den zwei Millionen Einheimischen in der Westbank stehen heute bereits 500’000 Eindringlinge gegenüber, die palästinensisches Land besetzen und darauf ihre Häuser und Dörfer bauen. Beschützt durch die Armee, unterstützt durch die neue Regierung, in der zwei Vertreter der Siedler sitzen, rücken sie ungebremst weiter vor und provozieren damit immer mehr Zwischenfälle mit Palästinensern, die ihr Land nicht hergeben wollen.
Das Jahr 2023 war im Westjordanland schon vor dem 7. Oktober das Jahr mit den meisten Toten seit langem. 199 Palästinenser wurden getötet durch Einsätze der Armee oder durch die Gewalt von Siedlern. Seit der Attacke der Hamas haben sich die Spannungen in der Westbank nochmal verschärft. Allein seit dem 7. Oktober wurden weitere 132 Palästinenser erschossen, und weitere 600 Menschen sind von den jüdischen Siedlern vertrieben worden.
Ein Teil der Westbank, das Gebiet C, steht unter der alleinigen Kontrolle Israels. Im Schatten des Gazakriegs nutzen die Siedler die Situation, um vor allem das Gebiet C zu erobern – und es «von nicht-jüdischen Menschen zu säubern».
Wie sich das anhört: « … das Gebiet von nicht-jüdischen Menschen zu säubern». Diese Worte hat nicht ein Palästinenser gesagt. Sondern der israelische Menschenrechtsaktivist Guy Hirschfeld. Und er spricht mit diesem Satz aus, worum es im Grunde geht: um eine ethnische Säuberung. Israel würde am liebsten nicht nur den Gazastreifen endlich palästinenserfrei bomben – dasselbe Israel würde am liebsten auch die ganze Westbank verschlingen. Weil Israel Platz braucht. Weil die Israeli, so scheint es, die besseren Menschen sind. Und bessere Menschen haben mehr Recht auf Land als weniger wertvolle Menschen.
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Ich sagte am Anfang, dass Israel nach dem Blutbad der Hamas aus seiner Sicht das moralische Recht hat, zurückzuschlagen und nicht zu ruhen, ehe die Hamas vernichtet ist. Ich sagte, man könnte Verständnis haben für Israels Reaktion.
Die Palästinenser im Westjordanland haben keine Attacke auf Israel unternommen. Es kamen keine Israeli ums Leben. Niemand wurde entführt. Die Bewohner der Westbank haben sich auch in den Jahren davor im Wesentlichen friedlich verhalten. Sie haben gehorcht. Im Vergleich zu ihren Brüdern und Schwester im Gazastreifen waren sie immer die «guten» Palästinenser. Trotzdem will Israel die Westbank Parzelle für Parzelle erobern. Trotzdem schert es sich nicht um die Rechte der dort lebenden Einheimischen. Trotzdem nimmt man ihnen ihr Land weg, ihr Wasser, ihre Olivenbäume, trotzdem werden sie schikaniert, verprügelt, davongejagt, und trotzdem – vor allem seit dem 7. Oktober – tötet man sie, wenn sie Widerstand leisten.
Mit anderen Worten: Während Israel sich im Gazakrieg als das Opfer darstellen kann, das sich verteidigen muss, ist dasselbe Israel im Westjordanland der Täter. In der Westbank zeigen die Israeli ihr wahres Gesicht. Ohne angegriffen zu werden, verhalten sie sich wie Eroberer. Wie Besatzer. Wie Herrenmenschen. Offenbar sind sie so, und sie waren schon immer so, seit sie das gelobte Land aufgebaut haben. Von Anfang an waren ihnen die Menschen in Palästina im Weg. Und seit jeher gab es kritische Stimmen überall in der Welt, die Israel dafür angeklagt haben. Auch kritische Stimmen in Israel selbst. Viele Israeli waren nie einverstanden mit der Politik ihres Staates, und sie sagten dasselbe wie die Freunde von Palästina im Ausland. Seit 70 Jahren. Doch es hat sich immer noch nichts geändert. Der Staat Israel ist immer noch so.
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Das letzte Wort soll ein junger Mensch haben, denn die Jugend ist für Ungerechtigkeit besonders empfindlich. In einem Leserbrief an die Basler-Zeitung schreibt der knapp Zwanzigjährige: «Die Palästinenser kämpfen seit Jahrzehnten für ihre Heimat, ihre Freiheit und eine menschenwürdige Existenz. Nicht Israel ist der mutige kleine David, sondern die Palästinenser, die in ihrem Kampf ganz allein stehen. Israel repräsentiert im Nahen Osten den mächtigen Goliath, und ich verstehe die Verbitterung der heimatlosen jungen Leute in Palästina, ich verstehe, dass ihnen heute fast keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als ihren Kampf mit radikalen Mitteln zu führen, um die Weltöffentlichkeit aufzurütteln. Im Nahen Osten wird kein Frieden herrschen, solange man dem palästinensischen Volk nicht zu seinem Recht verhilft.»
Dieser Leserbrief erschien vor 49 Jahren, im Mai 1974, und sein Verfasser bin ich. Schon damals habe ich mit den Palästinensern gelitten. Und ich leide noch heute mit ihnen.
Aktuelles CNN-Interview über das Vorgehen der Siedler im Westjordanland
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